Das Ende der Kundenorientierung

Das Ende der Kundenorientierung?!

Bei all den Diskussionen um den digitalen Wandel. Dessen Zwang nach neuen Geschäftsmodellstrategien. Immer schnelleren Innovationszyklen. Und jeder Menge hochgelobter Start-ups. Wird eines immer wieder vergessen:

 

"JEDES Unternehmen war irgendwann einmal ein Start-up.

Mit einer Idee, einem Gründer, einem Visionär."

 

Jedes Unternehmen war einmal geboren aus der Vorstellung, dem Ziel und dem festen Willen, mit dem eigenen Produkt oder der eigenen Dienstleistung „den Markt zu erobern“. In dieser Phase drehte sich fast alles um den Kunden: die Produktidee, die Anwendungsmöglichkeit(en), die Preisfindung, die Vermarktung und der Verkauf. Doch wie lange kann so eine Phase dieser – nennen wir sie mal  – bedingungslosen Kundenorientierung anhalten?

 

Gerade bei erfolgreichen Unternehmen verändern sich über die Jahre und Jahrzehnte die Wertesysteme. Der ursprüngliche Pionier- und Gründergeist ist in entwickelten Unternehmenskulturen oft verblasst. Stattdessen rück(t)en transaktions- und profitorientierte Interessen in den Vordergrund. Dann geht es oft nicht mehr darum, was zu tun (oder zu lassen) ist, damit das, wofür sich der Kunde interessiert im Mittelpunkt steht.

 

Sondern darum, was zu tun oder zu lassen ist, damit Bonuskriterien erfüllt und (institutionelle) Anteilseigner befriedigt sind. Das (quartals-getaktete) Streben nach Zielvereinbarungen, Profit oder Aktienkurs lässt Unternehmen oft ihren eigentlichen Existenzzweck vergessen. Dabei ist Umsatz nicht mehr als der Applaus von Kunden. Gewinn nur der bezahlte Zins für einen verkauften Nutzen. Und Aktienkurse lediglich eine Wette auf eine mögliche Zukunft.

 

Doch nicht nur das. Verdammt zu immerwährendem Wachstum, um den marktwirtschaftlichen Gesetzen und Anforderungen zu genügen, muss immer mehr Produktivität erzielt werden. Während sich die relative Zahl der Beschäftigten mit unmittelbarem Kundenkontakt in den Unternehmen immer weiter reduziert.

 

Bei den ganz eifrigen Unternehmenslenkern sogar soweit, dass sie auch noch die letzten bedeutsamen Kunden-Schnittstellen wie Telefon-Hotline oder Auftragsannahme an international operierende Serviceanbieter billigst ausgelagert oder durch elektronische (Sprach)Dialogsysteme abgelöst haben.

 

"Irgendwie paradox: Der Kunde als (Prozess-)Kostenfaktor,

der immer weiter aus dem operativen Geschäft herausgedrängt wird."

 

Ich finde es erschreckend, dass die realen Bedürfnisse von Kunden (Menschen) und deren tatsächliche Bedarfe an einem Produkt oder einer Dienstleistung in vielen Unternehmen nur noch in Form imaginärer Annahmen und konstruierter Schein-Wahrheiten existieren. Die Personas lassen grüßen. Zugegeben, die Welt mag komplizierter geworden sein. Global. Und die Interessen von Kunden scheinen immer schwieriger zu werden.

 

Während das Ford T-Modell in genau einer Farbe und einer Ausstattungsvariante bestellbar war, bieten Automobilhersteller heute so viele Konfigurationsmöglichkeiten an, dass manche Variante gerade noch ein- oder zweimal pro Jahr gefertigt wird. Oder beim Smartphone als Nutzungsplattform für Apps: es bestehen Abermillionen von Möglichkeiten zur individuellen Ausgestaltung über die gesamte Lebensdauer.

 

Und manche mögen gar einwenden, dass Kunden zwar wissen, was sie möchten – oft jedoch nicht, was sie brauchen (könnten). Deshalb sollte man sich nicht allzu sehr an ihnen orientieren. Und in der Tat. Viele Innovationen wären nicht entstanden, wenn „nur“ auf Kundenwünsche gehört worden wäre. Wer hat sich in den 70er-Jahren bitteschön einen Airbag im Auto gewünscht? Oder Mitte des letzten Jahrzehnts ein Mobiltelefon mit Touch-Oberfläche?

 

Und doch ist Vorsicht geboten: Die scheinbare Überlegenheit – von Wissenschaft und Technik, Forschung und Entwicklung – bei der Erfindung von (disruptiven) Innovationen verführt auch dazu, sich als Unternehmen über die Mündigkeit der Kunden hinweg zu setzen. In der (wenn auch gutgemeinten) Annahme, man wisse schließlich am besten, was gut und richtig für die Kunden sei.

 

Noch gefährlicher kann es werden, wenn man blind den ganzen Versprechen der Big Data, Machine Learning und Künstliche Intelligenz Industrie folgt. Deren erklärtes Ziel ist es ja unter anderem, aus Unmengen von gesammelten Nutzerdaten relevante Erkenntnisse für das Design oder die Absatzprognosen künftiger Produkte und Services abzuleiten.

 

Was für ein Segen: Marktforschung? Ade. Lästige Kundenbefragungen? Tschüss. Wozu noch mit dem Kunden reden? Watson, übernehmen Sie!

 

Was wie ein unfehlbares Orakel daherkommt, kann jedoch rasch zum irreführenden Horoskop mutieren. Nämlich dann, wenn Algorithmen aus korrekten Daten falsche Ergebnisse erzeugen (siehe Concept drift). Oder korrekte Ergebnisse zu falschen Interpretationen führen (siehe Barnum Effekt).

 

Jedenfalls wird es wohl noch längere Zeit dauern, bis die Maschinen uns das Denken abnehmen (dürfen). Ich zum Beispiel wundere mich nun seit mehr als 10 Jahren darüber, dass die Kauf-Empfehlungen bei Amazon (immer noch) meilenweit weg von meinen tatsächlichen Bedarfen und Bedürfnissen sind.

 

Jüngst habe ich dort ein neues Haushaltsgerät angeschafft. Keines von der Sorte, welches mehrfach im Haushalt gebraucht wird. Und dennoch bekomme ich nun ständig Vorschläge von gleichartigen Geräten, die auch geeignet wären. Amazon’s KI hat wohl leider immer noch zu wenig Ahnung von Haushalt ...

 

Es ist also angebracht, auch weiterhin die Interessen der Kunden im realen Mittelpunkt zu halten. Kundenzufriedenheit und -loyalität sind fragile, emotionale Gebilde. Im Zeitalter der alles-jederzeit-unmittelbar-hier-Verfügbarkeit unterliegen sie einer permanenten Attacke durch unzählige Wettbewerber.

 

Wir sollten uns auch bewusst sein, dass unser Produkt- und Dienstleistungs-Portfolio binnen kurzer Zeit überflüssig werden kann. Dabei ist doch genau das unser einziger(!!) unternehmerischer Existenzbeweis. In Deutschland scheinen gerade alle auf Industrie 4.0 abzufahren. Leider ist vieles davon nur ein weiterer Versuch, die Produktion noch ein wenig effizienter zu machen. Die Frage, welchen (Mehr)Wert diese Verbesserungen für die (Produkte meiner) Kunden haben, wird dabei nur selten beachtet.

 

Neben all den sinnvollen und notwendigen Aktivitäten rund um die Digitalisierung. Den vielen Verheißungen und Verlockungen durch neue Technologien. Und dem ganzen Geschwätz von disruptiven Risiken zum Trotz:

 

Die (selbst)kritische Auseinandersetzung mit Kunden – und noch wichtiger – den Menschen dahinter ist durch nichts zu ersetzen!

 

Zumindest noch solange sie die Kaufentscheidung fällen.