Lieber vorwärts oder rückwärts in das Tal der Tränen stürzen?
In einem meiner letzten Projekte habe ich (mal wieder) hautnah erleben dürfen, welche „durchschlagende“ Wirkung Veränderungen auf das Verhalten von Menschen haben können. Im einen Moment noch produktiv und umgänglich, kollegial und verbindlich.
Und von jetzt auf nachher voll im Widerstand: Aufgaben bleiben (absichtlich) liegen, es bilden sich subkulturelle „Untergrundbewegungen“, die Stimmungslage gleicht der Temperatur eines Eisbergs, in Meetings und in der Kaffeeküche wird nur noch gestänkert, usw.
Was war passiert? Aufgrund einer größer angelegten, organisatorischen Veränderung waren auch Aufgaben und Ziele von diesem – auf den ersten Blick unbeteiligten – Bereich betroffen. Sie ahnen
schon, was jetzt kommt: Genau, die Betroffenen wurden nicht vernünftig informiert. Es wurde verpasst, ihnen frühzeitig die möglichen Folgen der Veränderung aufzuzeigen. Man hat unterlassen, sie
auf die Reise der Veränderung mitzunehmen.
Stattdessen wurden sie vor vollendete Tatsachen gestellt: „Ab sofort ist dies oder jenes jetzt Teil Deiner Stellenbeschreibung…“; „… dafür fällt x oder y weg und wird künftig von Anderen erbracht!“; usw.
Anfängerfehler! denken die Change-Erfahrenen unter Ihnen. Ja! Und Nein! möchte ich gerne entgegnen. JA, weil unzählige Studien und Forschungen eine klare Sprache sprechen:
- Mach die Betroffenen zu Beteiligten und Veränderung gelingt leichter.
- Oder: Nimm‘ wenigstens die Meinungsführer frühzeitig an Bord, der Rest folgt über kurz oder lang von allein.
- Auch beliebt: Umfangreiches Projekt Marketing und interne Unternehmenskommunikation.
Bitte korrekt verstehen: das ist alles gut und wichtig! Und zeichnet erfolgreiche, nachhaltige Veränderungsprojekte aus.
Gleichwohl auch ein NEIN, weil eine Veränderung ist und bleibt eine Veränderung. Und damit für die Mehrzahl der Menschen erst mal eine Bedrohung. Ein Angriff auf die bisher erbrachte (gute)
Leistung. Ein Infrage stellen der gewohnten und bewährten Abläufe. Ein unfreiwilliger Tausch von Sicherheit in Ungewissheit. Ungeachtet des Zeitpunkts der Kenntnisnahme. Entsprechende Reaktionen
sind die Folge.
„Gewohnheiten sind kleine Süchte.“
Wolfram Schultz, Professor für Neurowissenschaften University of Cambridge
Jeder Mensch benötigt eine bestimmte Anzahl Wiederholungen, bis sich ein spezifisches Verhalten einstellt oder verändert. Dank der Neuroplastizität unseres Gehirns sind wir sogar bis in das hohe Alter noch in der Lage, Neues zu erlernen.
Doch erst mit der Zeit entsteht dann wieder Routine und damit (Selbst-) Sicherheit. Bis dahin aber befinden wir uns auf unsicherem Terrain. Haben wir noch (zu) wenig Übung. Und bekommen zu wenig Selbstbestätigung aus der Sache heraus. (Kennen Sie das auch? Der wertlose, schale Geschmack eines Lobs von außen, wenn der eigene Anspruch an die erbrachte Leistung nicht erfüllt ist?).
Aber warum sind wir denn überhaupt bestrebt, alles zu „routinisieren“? Die Antwort kommt aus der Neurowissenschaft: Weil wir dann nicht mehr darüber nachdenken müssen! Weil wir dann einen Großteil einer Handlung unbewusst (richtig) machen. Manchmal sogar in reflexartiger Geschwindigkeit.
Solch eine Meisterleistung aufzugeben, sie loszulassen, fällt kaum jemandem leicht. Denn alles andere bedeutet zusätzliche Anstrengung. Zusätzliche kognitive
Leistung. Unnötiger Stress und ver(sch)wendete Energie, die dann für andere, wichtige(re) Aktivitäten fehlt. Kein
Wunder also, dass wir da kein "Hurra" für übrig haben!
Bei einer Veränderung, jedenfalls sofern von außen induziert, überwiegt halt erst mal das Negative. Auch ein Überbleibsel unserer seitherigen Evolution. Denn diese Grundeinstellung sichert(e)
unser Überleben, weil sie uns bei Veränderung (einer Situation) in „hab-acht-Stellung“ versetzt(e). Auch diese Erkenntnis ist hinlänglich erforscht.
Demnach haben - insbesondere die ersten, oft heftigen - Reaktionen nur wenig oder oft gar nichts mit der eigentlichen Sache zu tun. Was wir als Initiatoren von Veränderungsvorhaben durchaus mit Erleichterung als ganz natürliche Reaktionen ohne eigene, persönliche Betroffenheit zur Kenntnis nehmen dürfen. Mit der Gewissheit, sie in mehr oder minder intensiver Form bei jeder Veränderung anzutreffen.
Als Verantwortliche können wir hier nicht viel mehr tun als: gelassen bleiben, Verständnis (für den Menschen, nicht für die Gegenargumente) aufbringen und konsequent den Kurs fortsetzen! Bis dieses „Tal der Tränen“ durchschritten ist.
Menschen brauchen Zeit. Zeit zur Akklimatisierung, zum „über-Wasser-bleiben“, zur Verarbeitung etwaiger „Entzugserscheinungen“, zum Aufbau neuer Kompetenzen, zum (Wieder)Erlangen von
Routine und Sicherheit. Wie wir als Veränderer diese Phase aktiv unterstützen können: kommunizieren, kommunizieren, kommunizieren.
Zudem lassen sich dabei Gleichgesinnte finden, welche auch noch Mühe und Zweifel haben. Nicht, um den organisierten Widerstand zu fördern, sondern um die Veränderung gemeinsam durchzustehen. Auch eine ehrliche(!) Anerkennung erreichter Zwischenschritte und Teilerfolge hilft ungemein, Selbstsicherheit und -vertrauen bei den Betroffenen zu stärken.
„Im Dialog ist das Gute im Schlechten leichter zu erkennen.“
Es ist aus meiner Sicht daher nicht grundsätzlich falsch, Menschen ohne Vorwarnung mit einer Veränderung zu konfrontieren. Jedenfalls nicht aus der Angst, Sorge oder scheinbaren Gewissheit heraus, dass dann der Widerstand ausbleiben wird. Genausowenig wie es für die Dauer, Intensität und den Erfolg eines Veränderungsprozesses auch nicht automatisch richtig ist, alle (frühzeitig) über das Anstehende zu informieren.
In den allermeisten Fällen scheint es natürlich klug und ratsam, die Beteiligten sehenden Auges, gut vorbereitet, Schritt für Schritt auf die Veränderung zu und durch sie hindurch zu führen. Das
lindert die „Anpassungsschmerzen“ oft deutlich. Besonders dann, wenn vielfältige Möglichkeiten zum Austausch mit anderen (Betroffenen) angeboten werden. Geteiltes Leid ist eben nur halbes
Leid.
In einigen Fällen kann es bisweilen auch hilfreicher (für alle) sein, völlig ahnungslos „rücklings in das kalte Wasser zu stürzen“. Manch eine haben daraus mitunter neue, bisher ungeahnte Kräfte
zur Bewältigung von Veränderungen freigesetzt. Krisensituationen beispielsweise sind immer wieder ein - zwar negatives, doch auch ungemein bemerkenswertes - Lehrstück zur Veranschaulichung von
(über)menschlichen Entwicklungsleistungen.
Ich halte nicht besonders viel von dogmatischen Prinzipien. Eine Ausnahme bilden bei mir humanistisch-ethische Grundsätze, die unanfechtbar gelten müssen. Das Denken in richtig oder falsch
dagegen finde ich eher hinderlich. Im Unterschied dazu ist es doch zielführender, den Sinn oder Nutzen für die jeweilige Situation als Maßstab anzulegen. Und sich währenddessen die Menschen
vorzustellen, um die es dabei geht.
Zum Abschluss folgt nun doch noch ein Dogma: Ich bin der Überzeugung, es ist immer ein Fehler, Menschen in Phasen der Veränderung alleine oder unbeachtet zu lassen.