Brauchen Unternehmen in Zukunft überhaupt noch einen Vertrieb?
Vor rund 30 Jahren wäre ich um ein Haar Schneepflug-Verkäufer geworden. Sie lachen? Ich auch! Kein Job mit Zukunft, möchte man angesichts der klimatischen Veränderungen annehmen. Ein Umstand, der wiederum so gar nicht zum Lachen ist …
Jedenfalls, was mich vor einer Laufbahn in der Sackgasse bewahrt hat, war mein – bis heute ungebrochenes – Interesse an den Entwicklungen und Möglichkeiten der Informationstechnologie.
Doch der Reihe nach:
Ende der 80er Jahre wurde ich im Rahmen meiner Ausbildung dazu ermutigt, den für die Azubis zuständigen Vertriebsmitarbeiter während seines Urlaubs zu vertreten. Jede Menge Verantwortung für so einen jungen, noch gänzlich unentwickelten Burschen. Doch ich hatte maximale Unterstützung: erfahrene KollegInnen ringsum, einen wirklich großartigen Vertriebschef und bereits ein paar Wochen Tipps, Tricks und Erfahrungswissen vom Ausbilder.
Ausgerüstet mit diesen „Sicherungshaken“ verließ ich also meine Komfortzone und übernahm die zweiwöchige Vertretung. Long story, short: Es hätte meinen damaligen Arbeitgeber beinahe einen großen Auftrag gekostet ... Gerettet haben ihn damals ein Kollege aus dem Vertriebsteam. Sowie das letztendliche Verständnis des Auftraggebers, in jenem Fall der Gebietsverkaufsleiter einer großen Generalvertretung.
Damals hatte ich von systematischem und erfolgreichem Vertrieb noch keinen blassen Schimmer. Doch ich habe in dieser Zeit eine wichtige Lektion gelernt, deren Wert ich dann erst Jahre später erkannt habe:
"Verkaufen ist eine zutiefst emotionale und zwischenmenschliche Handlung."
Ich schätze, jede Person, die einmal Teil einer harten Einkaufsverhandlung war, wird das bestätigen können. Und wenn ich mir die ganzen Methoden und
B2B-Vertriebsratgeber anschaue, von Miller-Heiman, über Power-Base und TAS bis zum Solution oder Spin Selling: Sie alle stellen ebenfalls die Menschen bzw. deren Macht-Positionen im Unternehmen
in den Mittelpunkt und scheinen mir in diesem Punkt Recht zu geben.
Doch so langsam zweifle ich an dieser Erkenntnis. Denn wenn wir uns die Entwicklungen der letzten Jahre betrachten, deutet die Zukunft in eine andere Richtung:
"Die Kunst des Verkaufens wandelt sich mehr und mehr zu einer naturwissenschaftlichen, zu einer digitalen Kompetenz."
Sie alle kennen bereits die dait verbundenen Schlagworte: Big Data, Analytics, Algorithmen, Maschinelles Lernen, Künstliche Intelligenz usw.
Wenn man heute den Versprechen der vielen Technologie-Anbieter glauben möchte, lässt sich menschliches (Entscheidungs-)Verhalten schon jetzt über mathematische
Kausalitäten abbilden: Funktionsanforderungen, Produkteigenschaften, Verkaufsargumente und Entscheidungsparameter sind bloß noch digitale Stellhebel. Deren Übereinstimmung im Rahmen eines
Auswahlverfahrens - ohne jede Emotion - zur Selektion der bestmöglichen Alternative in Sekundenbruchteilen analysiert werden.
Davon abgesehen, scheinen Menschen bereits in den vergangenen Jahren in Verkaufstransaktionen zunehmend überflüssig geworden zu sein. Gibt es doch in fast jedem
Unternehmen (bereits seit einiger Zeit):
- Kaufmännische Systeme, über Schnittstellen mit den Systemen ihrer Lieferanten verbunden, welche bei Unterschreiten eines Mindestbestands automatisch einen Bestellvorgang erzeugen.
- Maschinen, die ihren (Ersatz-)Teile Bedarf selbständig melden und einen Nachschubvorgang auslösen.
-
Produktions-Planungs-, Steuerungs- und Logistik-Systeme, welche unternehmensübergreifende Lieferketten (Supply Chains) absatzbezogen und bedarfsgerecht
automatisch synchronisieren und somit die punktgenaue Versorgung sicherstellen (just-in-time, just-in-sequence, just-at-place, ...)
Bei genauem Hinsehen folgen all diese Entwicklungen einem gemeinsamen Muster: Sobald der Grad an Vernetzung einen bestimmten Punkt erreicht hat, wird der Mensch in den Transaktionen überflüssig. Schlimmer noch: er verlangsamt, verkompliziert oder verhindert womöglich einen effektiven wie effizienten Informationsaustausch zwischen den Maschinen und Systemen. Und immer müssen diese Emotionen im Spiel sein ;-)
Das geht doch auch einfacher, oder? Tja, irgendwie sieht es tatsächlich danach aus, dass die Bemühungen von IBM & Co. beginnen, erste Früchte zu tragen. Hier lohnt sich mal ein Blick auf diese Webseite. Und glaubt man einer Studie von Forrester aus dem Jahr 2015, so werden allein in den USA bis 2020 rund eine Million B2B Vertriebsjobs wegfallen. Hier gehts zum Podcast von Forrester für eine Zusammenfassung dieser These.
Zu allem Übel sehen sich B2B-Vertriebler - wie ihre B2C KollegInnen schon seit einiger Zeit - darüber hinaus auch zunehmend mit Käufern konfrontiert, die eine selbstbestimmte "Kundenreise" (neudeutsch customer journey) bevorzugen. Und während einfache Warentransaktionen heute weitgehend ohne direkte Verkaufsinteraktion stattfinden können, wandelt sich die Rolle des Vertriebsrepräsentanten daher grundlegend.
In einer gemeinsamen Studie von Roland Berger und Google hat sich bereits 2015 herausgestellt, dass die Bedeutung des Internet auch im B2B längst Tagesordnung ist. Geschäftskunden sind halt auch Verbraucher und haben demnach Verbraucher-Service-Ansprüche!
Für Marketing- und Vertriebsverantwortliche geht es deshalb immer stärker darum, ihr Personal und ihre Ressourcen für die anspruchsvollen, beratungsintensiven und technologiegestützten Verkaufschancen (neu) aufzustellen. Dabei unterscheiden sie in transaktionalen Vertrieb (Leistungen werden künftig ausschließlich automatisiert gehandelt) und beziehungsorientierten Vertrieb (Leistungen werden im Dialog - vorrangig zwischen Menschen - ausgehandelt, z.B. Sonderanfertigungen oder hochkomplexe, beratungsbedürftige Produkte). Daraus kristallisieren sich - mit etwas Distanz betrachtet - drei unterschiedliche Vertriebsrollen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) heraus:
-
Datenanalyst - überall dort, wo Algorithmen die Informationslage (noch) nicht durchdringen oder sich keine ausreichenden Lernmuster abzeichnen,
braucht es Menschen, die mit kontextuell-analytischen Fähigkeiten vertriebsrelevante Entscheidungen vorbereiten und/oder treffen. Diese Rolle wird zunehmend mit den künstlichen Intelligenzen
verschmelzen (natürlich nur im metaphorischen Sinne).
-
Berater - besonders im B2B Verkauf wird es vermutlich noch mehrere Jahrzehnte lang beratungsintensive Vertriebstätigkeiten geben. Anlagen- und
Sondermaschinenbauer beispielsweise sind explizit darauf angewiesen, dass die Eigenschaften ihrer Produkte in Form von Machbarkeitsanalysen, Anforderungen und Spezifikationen definiert und
ausgehandelt werden.
-
Dirigent - womöglich die Königsdisziplin unter den (künftigen) Vertriebsjobs. Denn die Schlüsselqualifikationen im beziehungsorientierten
Vertrieb sind die Vernetzung (primär mal der Menschen) sowie die Orchestrierung mitwirkender Ressourcen (im Sinne einer Verteilung der Rollen einer vertrieblichen Komposition auf die
einzelnen Mitwirkenden).
Kürzlich hat mir ein guter Bekannter und Geschäftsführer eines mittelständischen Maschinenbauunternehmens sein Leid geklagt…
„Die Vertriebsarbeit wird immer komplizierter. Nicht nur, dass wir mehr und mehr Informatik in den Maschinen verbauen. Welche wir dann mit viel Mühe und Aufwand dem Vertrieb beibringen müssen. Sondern auch, dass die Kunden immer schwierigere Fragen und Anforderungen stellen.“
„Stell Dir vor,“ hat er gesagt. „Da sitzen plötzlich Leute aus der IT und dem Datenschutz mit am Tisch und stellen Fragen wie:
- Mit welchen digitalen Schnittstellen für MES etc. ist Ihre Maschine ausgerüstet?
- Wie unterstützen Sie die Auswertung von produktionsrelevanten KPI (OOE-overall equipment effectivenes, ACT-average cycle time, CTR-cycle time ratio)?
- Wie ist das mit der Informationssicherheit in der Anlage?
- Welche Firewall ist da integriert?
- Thema Datenschutz: Verpixelt die Kamera im Arbeitsraum das Gesicht des Bedieners?
- Sind Sie in der Lage, unsere Anforderungen an ein VPN zu erfüllen, wenn Sie per Ferndiagnose auf die Maschine zugreifen?
Ich habe ihn daraufhin gefragt, wie seine Leute mit diesen Anforderungen umgehen würden. Die Antwort darauf möchte ich hier nicht erzählen.
Dafür habe ich mal recherchiert, wie sich der Schneepflug-Vertrieb weiterentwickelt hat. Und siehe da, auf Alibaba.com kann man sie mittlerweile schon online kaufen!